06.03.2015 KÖLN. Alltag in der Keupstraße, einer türkischen Einkaufsstraße im Kölner Stadtteil Mülheim, von der die Anwohner und Geschäftsleute sagen, dass sie niemals schläft. Wo die Geschäfte bis zehn Uhr abends geöffnet bleiben. Oder länger.
Wo es für den, der sich auskennt, rund um die Uhr noch was zu essen gibt. Ein Alltag, weit entfernt von den Albträumen der Keupstraße. Vom Nagelbombenattentat, das am 9. Juni 2004 die Straße erschüttert. 18 verletzte Menschen, zerstörte Geschäfte, Vertrauensverlust, weil am Tag danach die Erklärungen schnell zur Hand sind.
Zu schnell, wie nicht erst der NSU-Prozess zeigt, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Während in München verhandelt wird, gibt es in Köln Führungen durch die Keupstraße. Was die Teilnehmer erwartet, ist kein Katastrophentourismus für Sensationslüsterne.
19 Besucher versammeln sich in der Kälte an der Bahnhaltestelle „Keupstraße“ um Şöhret Gök. Alle drei Monate führt die Deutschtürkin für die Organisation „Kulturklüngel“ Besucher durch „Köln alla turca“. Für sie eine Herzenssache, der sie mal in Ehrenfeld, mal in der Südstadt und mal in der Keupstraße nachgeht. Immer auf der Suche nach verbindenden Erlebnissen, die beide Seiten der Tochter eines Türken und einer Westerwälderin vereinen und Brücken schlagen zwischen den Kulturen.
„Ich habe eine anatolische Seele“, sagt die Rechtsanwältin, die in Köln lebt, aber oft in die Türkei reist. Als Mediatorin ist sie Expertin für deutsch-türkische Konflikte. Aber diese Fähigkeit ist beim abendlichen Bummel durch die Keupstraße zum Glück nicht gefragt.Auch wenn in der Wand des Friseurgeschäfts immer noch Zimmermannsnägel aus der Bombe stecken, die Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf einem Fahrrad vor der Tür deponiert hatten.
Schnurstracks führt der Weg zur einzigen Station der Führung, die keinen türkischen Anhaltspunkt bietet. Zumindest auf den ersten Blick. Direkt um die Ecke der Keupstraße hat das Kölner Schauspiel im Carlswerk Asyl gefunden. Wo früher Arbeiter Drähte und Kabel fertigten, spielt das Theater bis zur Fertigstellung des Umbaus am Offenbachplatz. Vielleicht auch länger. „Es gibt den Wunsch, irgendwie hier zu bleiben“, erzählt Dramaturgin Sibylle Dudek.
Schnell haben sich die Theaterleute eingelebt und in der Nachbarschaft Anschluss gefunden. Dabei hatte es am Anfang einen Aufschrei gegeben: „Ausgerechnet Mülheim.“ Der rechtsrheinische Ortsteil schien nicht repräsentabel genug. „Kann man da auch abends hin?“, fragten etablierte Theaterbesucher. Und schon hatte der Umzug was mit der Keupstraße zu tun. Irgendwie.
Inzwischen komme das Stammpublikum gerne nach Mülheim, berichtet Dudek. Die Theatergänger hätten die türkischen Restaurants der Keupstraße für sich entdeckt. Und umgekehrt kommen die Keupstraßen-Bewohner auf das Schauspielgelände, um dort ein Hochbeet zu bepflanzen.
„Urban Gardening“ heißt das neudeutsch. Vielleicht auch das ein Beitrag zur Völkerverständigung. „Im Sommer hat es ein bisschen was von einer Hippie-Kommune“, sagt Dudek. Jetzt im Winter keimen nur zarte Pflänzchen in den mit Eis bedeckten Kübeln und Beeten und warten wie die Nachbarschaft auf das Ende des Winters und besseres Klima.
Und dann ist da noch „Die Lücke“. Regisseur Nuran David Calis hat für sein Stück immer wieder Anwohner und Geschäftsleute getroffen und sie gefragt, wie sie den Anschlag und die Zeit danach erlebt haben. Die Inszenierung führt in die Keupstraße und ins Depot des Schauspiels, Anwohner und Schauspieler stehen gemeinsam auf der Bühne.
Aufwärmen bei „Kuaför Gölge“, wo die Plätze hinter den großen Schaufenstern für die Männer reserviert sind. Hier lassen sie sich wie auf dem Präsentierteller frisieren, rasieren und auf traditionelle Weise von Ohr- und Nasenhaar befreien. „Merhaba!“ Freundlich grüßt die Besuchergruppe mit Şöhret Gök an der Spitze und staunt schon beim Eintreten nicht schlecht. Wie ein überdimensioniertes Wattestäbchen sieht aus, was der Friseur da gerade in Brand setzt. Locker aus dem Handgelenk klopft er dem Kunden damit ans Ohr.
Schmerzensschreie? Fehlanzeige. Aber das geflügelte Wort vom „Satz heiße Ohren“ kriegt eine neue Bedeutung – und es riecht eindeutig nach verbrannten Haaren. Ein Verfahren, das als vergleichsweise kurz und schmerzlos gelten kann, wenn der Blick der Beobachter auf den Sitznachbarn fällt: In seiner Nase stecken wachsgetränkte Tampons. Das muss ganz schön ziepen, wenn die mit einem Ruck herausgezogen werden.
Keinen Ruck, dafür aber ein Zwirbeln muss Versuchskaninchen Maike ertragen, als sich Sümeyra mit einem schwarzen Bindfaden nähert, um ihr die Augenbrauen in Form zu zupfen. „Wichtig ist, dass der Faden ein Kreuz bildet und sich wie eine Spule dreht“, erläutert Şöhret Gök. Die jungen Frauen, denen Chef Erdogan Akpınar gerade aufwendige Hochsteckfrisuren zaubert, amüsieren sich über unser Staunen: „Wir kennen das nur so.“
Stolz zeigt der Meister seine Facebook-Seite mit mehr als 300 Hochzeitsfrisuren. Da wird toupiert und hochgesteckt, was das Brauthaar hält. Und ist es nicht lang genug, kommen Haarteile und Schwämme als Unterfutter zum Einsatz. „Nicht nur die Braut geht zum Friseur“, sagt Söhret.
Auch für die Mutter, die Schwestern, Cousinen muss der Bräutigam zahlen. Auf türkische Hochzeiten, die gerne mit mehreren Hundert Menschen gefeiert werden, ist die Keupstraße ohnehin spezialisiert. Da gibt es von Juwelieren mit den eher rötlich glänzenden Goldarmbändern über Brautmodengeschäfte alles, was das Herz begehrt. Auch den obligatorischen Haushaltswarenladen, der Teegeschirr und Mokkakocher bereithält.
Ob nämlich die Braut etwas taugt, erkennen die Schwiegereltern beim Kennenlerntermin daran, wie ihr Mokka schmeckt. Das bietet natürlich unendliche Möglichkeiten. Auch die, dem Mann ohne Worte einen Korb zu geben.
„Wenn das Mädchen nicht einverstanden ist, mischt sie Salz in den Kaffee“, erzählt Şöhret Gök. Manche Braut soll den künftigen Schwiegereltern reinen Mokka einschenken, dafür aber den Liebsten mit einem Höllengebräu auf die Probe stellen. Und wehe, der verzieht eine Miene.
„Selbst ist die Frau, dafür habt Ihr doch gekämpft“
In der Konditorei der Familie Özdag bekommen die Eindrücke über türkische Emanzipation noch eine weitere Geschmacksnote hinzugefügt. „Selbst ist die Frau, dafür habt Ihr doch jahrzehntelang gekämpft“, will Servet Özdag eine junge Kundin animieren, den Tortenkarton anzunehmen, den er ihr über die Theke reicht.
„Ich bin nicht für Gleichberechtigung. Bei uns macht alles der Mann“, zeigt sie augenzwinkernd neben sich. Überhaupt die Özdags, eine türkische Einwandererfamilie zum Vorzeigen. Nicht umsonst haben es Vater Hasan, der in den 70er Jahren nach Deutschland gekommen ist und auf den Straßen von Menden von seiner Frau selbst gebackene Sesamkringel verkaufte, mit Unterstützung der sieben Sprösslinge zu einer florierenden Konditorei mit Lieferservice gebracht.
In der Nachfolge der Fussbroichs spielten die Özdags in einer siebenteiligen WDR-Doku-Serie die Hauptrolle und wären dafür beinahe mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden.
In vielerlei Hinsicht sind Kölner Spuren nicht aus ihrem Leben wegzudenken: Servet spricht so Kölsch wie mancher Köbes, wie eine aus der „Reisegruppe Keupstraße“ beim abschließenden Essen im Asmali Konak zurecht feststellt. Und was die Figuren für die Hochzeitstorte angeht, die im Geschäft der Özdags Spalier stehen, gibt es eben nicht nur Mann und Frau, sondern als Zugeständnis an Köln auch gleichgeschlechtliche Paare.
Nach einem Besuch in der Alevitischen Gemeinde und einem Konzert auf der Saz, der türkischen Langhalslaute, in der Werkstatt von Haydar Güray geht die Liebe zur Türkei durch den Magen: Beim Iskender Kebap dreht sich das Gespräch noch mal um dem Sohn des Sazbauers, der das Handwerk des Vaters nicht weiterführen will, sondern eigene Pläne schmiedet.
Um die Aleviten, die manchen wie die „Protestanten des Islam“ vorkommen. Gesprächsstoff gibt es reichlich. Auch die Motivation jedes Einzelnen, sich der Führung anzuschließen. Spannend auch für Şöhret Gök, die selbst erst mit 16 Jahren ihre Vatersprache gelernt hat und mit den Teilnehmern die Nähe zur Türkei teilt. Und jetzt auch zur Keupstraße.
Reisen durch die eigene Stadt
Es ist eine Gabe der Rheinländer, leicht mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Warum sollte das bei Zuwanderern aufhören? Thomas Bönig hat sich die Eigenschaft zunutze gemacht – und den „Kulturklüngel“ gegründet. Eine Art Reisebüro für die eigene Stadt.
„Klüngeln ist Kölsch und heißt ‚Beziehungen knüpfen‘, ‚vernetzt sein'“, übersetzt Bönig. Als Reiseleiter will er die mehr als 170 Nationalitäten, die in der Domstadt vertreten sind, in Kontakt bringen. Wer fremde Kulturen kennenlernen wolle, müsse sich nicht ins Flugzeug setzen. Vor der eigenen Haustür warte nur wenige Schritte entfernt das „kleine Abenteuer“.
Da die Neugier der Kulturklüngler nicht an Stadtgrenzen Halt macht, gibt es inzwischen auch Exkursionen in Bonn: Eine Führung erkundet die internationale Stadt. Eine Inderin bietet einen Kochkurs am eigenen Herd an.
Die Langzeitwirkung der Alltagsexpeditionen ist gewollt. „Wir sind in einer Situation, in der Politiker nicht mehr wissen, ob ihre Bürger Migrationsvorder- oder -hintergrund haben“, findet Bönig. Die Stadtreisen machten nicht nur Spaß, sondern wirkten als Gegenmittel zu Klischees und Vorurteilen. Wie heißt es doch so schön? Reisen bildet.
Wir hatten eine so tolle Führung, so hervorragend, liebevoll ausgewählt, eine tolle Mischung, eine tolle Frau, die viel zu erzählen hat und mit Herz dabei ist.“,
„Wir werden die Tour weiter empfehlen und ganz sicher die anderen in den anderen Stadtvierteln mitmachen.“
– Gastkommentar –
„Köln alla Turca“ mit Şöhret Gök
Egal, wo wir uns in Köln befinden, türkisch-kölsches Leben ist um uns. Mode aus dem hippen Istanbul, Gemüse vom Basar um die Ecke, Zentral- und Hinterhofmoschee, sogar verschiedene muslimische Dachverbände: Der türkische Einfluss diverser Volksgruppen ist in Köln an vielen Ecken spürbar. Bei dieser Kulturwanderung schärfen Stationen zu Körperpflege, Haushalt und Kulinarik, sowie ein Türkisch-Crashkurs, unseren Blick für den Alltag von vielen tausend Einwohnern unserer Stadt.
Şöhret Gök hat deutsch-türkische Wurzeln, lebt als Rechtsanwältin und Dozentin in Köln und engagiert sich in verschiedenen Projekten in der Türkei. Die Mediatorin und Expertin für deutsch-türkische Konflikte beschäftigt sich mit Streitkultur und nutzt dabei die Weisheit orientalischer Märchen. Sie begeisterte bisher nicht nur zahlreiche Gäste, sondern auch viele türkischstämmige Gastgeber auf unserer Reise, die mittlerweile vier verschiedene Routen durch Ehrenfeld, Innenstadt, Südstadt und Mülheim umfasst.
Ethnofood: Kulinarische Weltreise Eigelstein mit Thomas Bönig
Auf der Rückseite des Hauptbahnhofs geht es – wie überall auf der Welt – etwas ruppiger zu. Der Eigenstein, das frühere „Chicago am Rhein“ tritt zwar immer sauberer und glatter auf, aber es ist und bleibt ein quirliges, multikulturelles Veedel, voller Charm und vieler Facetten. Hier trifft türkische Einwandererkultur auf türkische Trends, chinesische handgerollte Nudeln auf argentinische Tapas und nigerianischer Yams auf Guiness.
Die Esskultur ist in vielen Ländern der Welt wesentlicher Bestandteil des Alltagslebens. Das soziale Leben findet rund ums Essen statt. Was könnte es daher besseres geben, als eine „kulinarische Weltreise“ um andere Sitten und Bräuche kennen zu lernen? Erforschen Sie die vielfältige Welt der exotischen Küchen in mindestens drei Gängen – Sie bringen lediglich Appetit und Experimentierfreude mit.